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Allgemeine Themen rund ums Pflegekind VI: Was, wenn es nicht passt? Wenn Pflegeeltern und Pflegekind im Anbahnungsprozess nicht zusammenfinden


Der Entschluss, ein Pflegekind aufzunehmen, entsteht oft aus einem tiefen Wunsch heraus: einem Kind in schwieriger Lebenslage Liebe, Stabilität und ein Zuhause zu schenken. Pflegeeltern investieren viel Zeit, Energie und Herzblut in die Vorbereitung – durch Informationsveranstaltungen, Schulungen, Gespräche mit Jugendämtern oder Erziehungsstellenträgern. Die Entscheidung ist nie leichtfertig, sondern wird meist über Monate hinweg getroffen.


Doch was passiert, wenn trotz aller Vorbereitung im entscheidenden Moment etwas nicht stimmt? Wenn der Anbahnungsprozess ins Stocken gerät, Irritationen auftreten oder das Gefühl entsteht: Es passt einfach nicht. Dieser Moment ist für viele Pflegeeltern eine emotionale Herausforderung – und für das Kind potenziell ebenfalls. Über diesen sensiblen Aspekt des Pflegekinderwesens wird selten offen gesprochen. Dabei ist gerade diese Phase besonders entscheidend für das Gelingen oder Misslingen einer Pflegebeziehung.


Der Anbahnungsprozess: Erste Schritte auf unsicherem Boden


Bevor ein Pflegekind dauerhaft in eine Familie vermittelt wird, durchläuft es gemeinsam mit den künftigen Pflegeeltern den sogenannten Anbahnungsprozess. Dabei handelt es sich um eine Phase des gegenseitigen Kennenlernens, in der sich beide Seiten vorsichtig annähern können – begleitet von Fachkräften des Jugendamts oder Erziehungsstellenträgers.


Je nach Alter des Kindes, seiner Vorgeschichte und emotionalen Stabilität sowie dem individuellen Setting der Pflegeeltern kann dieser Prozess unterschiedlich lang und intensiv gestaltet werden. Ziel ist es, herauszufinden, ob eine tragfähige Beziehung entstehen kann. Dazu gehören erste Treffen, gemeinsame Unternehmungen – bis schließlich der tatsächliche Einzug in die Pflegefamilie bevorsteht.


Wenn Erwartungen und Realität aufeinandertreffen


Diese Phase ist oft von vielen Emotionen geprägt – auf beiden Seiten. Pflegeeltern erleben Vorfreude, aber auch Nervosität. Sie möchten alles richtig machen, zeigen, dass sie ein gutes Zuhause bieten können. Das Kind hingegen betritt erneut unbekanntes Terrain. Es bringt in vielen Fällen Bindungserfahrungen mit, die von Unsicherheit, Trennung, vielleicht auch Gewalt oder Vernachlässigung geprägt sind. Entsprechend vorsichtig, distanziert oder ambivalent kann sein Verhalten sein.


Nicht selten klaffen die Erwartungen und die Realität in der Anbahnungsphase auseinander. Pflegeeltern sind mit Verhaltensweisen konfrontiert, auf die sie sich trotz Schulung emotional nicht ausreichend vorbereitet fühlen. Sie empfinden Unsicherheit, vielleicht auch erste Überforderung. Oder sie spüren schlicht, dass sich keine emotionale Verbindung aufbauen lässt – dass kein echtes „Wir-Gefühl“ entsteht.


Wenn das Bauchgefühl nicht mitspielt


Besonders herausfordernd wird es, wenn Pflegeeltern während der Anbahnung ein ungutes Bauchgefühl entwickeln – und sich gleichzeitig mit inneren Konflikten herumschlagen. Darf ich jetzt noch einen Rückzieher machen? Ist das nicht herzlos dem Kind gegenüber? Gerade an diesem Punkt ist es wichtig, sich bewusst zu machen: Der Anbahnungsprozess ist genau dafür da – um herauszufinden, ob ein Miteinander langfristig gelingen kann. Zweifel sind keine Schwäche, sondern ein Zeichen für Verantwortungsbewusstsein. Denn es ist weder für das Kind noch für die Pflegefamilie hilfreich, eine Beziehung zu erzwingen, die sich von Anfang an nicht stimmig anfühlt.


Verantwortungsvoll Nein sagen dürfen


Ein Nein während der Anbahnung ist kein persönliches Versagen – weder der Pflegeeltern noch des Kindes. Vielmehr ist es ein ehrlicher, achtsamer Umgang mit den eigenen Grenzen und denen des Kindes. Denn was viele nicht bedenken: Auch Kinder spüren oft, ob eine Verbindung entsteht oder nicht. Eine misslungene Anbahnung ist für das Kind kurzfristig enttäuschend – aber langfristig weitaus weniger schmerzhaft als eine Trennung nach mehreren Monaten oder Jahren, wenn Bindung bereits entstanden ist.


Pflegeeltern sollten sich in dieser Phase gestärkt fühlen, ihre Eindrücke offen mit den begleitenden Fachkräften zu besprechen. Professionelle Unterstützung ist essenziell, um Entscheidungen reflektiert treffen zu können – ohne Schuldgefühle, aber mit Blick auf das Wohl aller Beteiligten.


Die Rolle der Fachkräfte


Jugendämter und Erziehungsstellenträger tragen in dieser Phase eine große Verantwortung. Sie müssen einen geschützten Raum schaffen, in dem Pflegeeltern offen über Zweifel sprechen können – ohne Angst vor Bewertung oder Druck. Gleichzeitig sollten sie sensibel beobachten, wie das Kind auf die neue Umgebung reagiert. Ist das Verhalten Ausdruck einer traumabedingten Angstreaktion – oder deutet es auf tiefe liegende Unvereinbarkeiten hin?


Ein ehrlicher, transparenter Dialog zwischen allen Beteiligten hilft, die Situation besser einzuordnen. Manchmal genügt ein klärendes Gespräch oder eine zusätzliche Unterstützungsmaßnahme, um die Unsicherheiten aufzulösen. In anderen Fällen kann es richtig und wichtig sein, die Anbahnung abzubrechen.


Fazit: Offenheit als Stärke


Pflegefamilie und Pflegekind müssen keine perfekte Einheit vom ersten Moment an sein. Aber es braucht zumindest das Potenzial für Beziehung, für gegenseitige Annäherung, für Vertrauen. Wenn dieses Potenzial im Anbahnungsprozess nicht sichtbar wird, darf – und sollte – dass ernst genommen werden. Ein Rückzug in dieser frühen Phase bedeutet nicht, dass jemand „gescheitert“ ist. Es zeigt vielmehr, dass Pflegeeltern Verantwortung übernehmen – für sich selbst, für das Kind und für den gesamten Pflegeprozess. Denn manchmal besteht echte Fürsorge auch darin, ehrlich zu erkennen: Wir sind nicht die richtige Familie für dieses Kind. Und darin liegt vielleicht der erste Schritt zu einer besseren Lösung – für alle Beteiligten.

 
 
 

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